Betreff
Bebauungsplan Nr. 382 "Nahversorgung Wiesenstraße" - hier: Einleitung des Verfahrens zur Aufhebung des Integrationsgebots
Vorlage
20/074
Aktenzeichen
21.26.382
Art
Beschlussvorlage

Sachverhalt:

 

Der Grundstückseigentümer plant die Errichtung eines Lebensmitteldiscounters mit einer Verkaufsfläche von circa 1.200 m² am Standort Wiesenstraße. Der Aufstellungsbeschluss des Bebauungsplans Nr. 380 „Nahversorgung Wiesenstraße“ wurde bereits gefasst (Vorlage Nr. 19/134).

 

 

Im Rahmen der geplanten Ansiedlung des Lebensmitteldiscounters wurde eine Verträglichkeitsuntersuchung des betreffenden Einzelhandels durchgeführt. Hierbei wurde die Raumverträglichkeit des Vorhabens im Hinblick auf das Einzelhandelskonzept der Stadt Aurich aus dem Jahr 2015 und der in 2017 beschlossenen Änderung des Landesraumordnungsprogramms (LROP 2017) Niedersachsen geprüft. Die Stadt Aurich ist als Mittelzentrum ausgewiesen. In Bezug auf die nahversorgungsrelevaten Sortimente hat die Stadt Aurich die Versorgung der eigenen Bevölkerung als raumordnerische Aufgabe.

 

 

Das vorliegende Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass sich der Standort Wiesenstraße siedlungsstrukturell in einer integrierten Lage befindet. Die fußläufige Erreichbarkeit von Wohngebieten ist gegeben. Ebenso ist der Standort durch den MIV (motorisierten Individualverkehr) und den ÖPNV (Öffentlichen Personennahverkehr) gegeben. Ferner wurde dargelegt, dass die projektierte Verkaufsflächengröße verträglich für die bestehenden Einzelhandelsstandorte im Sinne des § 11 Abs. 3 BauNVO ist.

 

 

Das geplante Vorhaben fällt mit einer projektierten Verkaufsfläche von 1.260 m² in den Bereich des großflächigen Einzelhandels. Das Einzelhandelskonzept der Stadt Aurich empfiehlt großflächige Lebensmittelmärkte nur im zentralen Versorgungsbereich Innenstadt sowie den Fachmarktlagen West und Süd anzusiedeln. Der Standort Wiesenstraße liegt außerhalb dieses Bereiches.

 

Großflächige Einzelhandelsbetriebe sind Betriebe mit einer Verkaufsfläche über 799 m². Dies geht auf die Rechtsprechung aus dem Jahr 2005 zurück, indem das Bundesverwaltungsgericht die Grenze zur Großflächigkeit von 700 m² Verkaufsfläche (Rechtsprechung 1987) auf 800 m² Verkaufsfläche angepasst hatte. Gründe hierfür waren damals der Trend zur Selbstbedienung mit einem breiteren Warenangebot und ein erhöhter Flächenbedarf für das Befahren mit Einkaufswagen. Man wollte zwischen der wohnortnahen Versorgung mit einem Nahversorger, zu denen damals auch die Discounter zählten, und den großen SB-Warenmärkten unterscheiden.

In den letzten Jahren hat es zahlreiche Veränderungen bei den Nahversorgern und Discountern gegeben. Die Regale sind niedriger geworden, die Gänge breiter und die Sortimente etwas vielfältiger, um aktuelle Ansprüche an eine Nahversorgung gerecht zu werden, wie z.B. ein begrenztes Sortiment an frischem Fleisch. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung beschreibt in einer Publikation zum Thema „Nahversorgung im ländlichen Raum“ aus dem Jahr 2013, dass sich die „Flächenausdehnung der Geschäfte […] aus der Sortimentsausweitung (ergibt), um aktuelle Konsumtrends nach Frischwaren, Bio- und Conveniece-Produkten zu entsprechen sowie kleinere Verpackungsgrößen für die wachsende Zahl von Einpersonenhaushalten zusätzlich anzubieten.“ Der Deutsche Städtetag verzeichnet im Rahmen der aktuellen Entwicklungen im Bereich der Nahversorgung den Trend zu Standardkonzeptionen der großen Anbieter insbesondere im Lebensmittelbereich. „Die Discounter gehen von bisher ca. 800 m² in Richtung 1.000 m² oder mehr.  […] Neue Konzepte mit kleineren Flächen und weniger Stellplätzen sind von den großen Betreibern einerseits aufgrund des bisherigen Verbraucherverhaltens (Preis und Sortimentsansprüche) sowie der Logistik und andererseits aufgrund betriebswirtschaftlicher Erwägungen nicht zu erwarten.“ 

 

Nach den neuen Vorgaben des LROP 2017 steht das Vorhaben ebenfalls nicht vollumfänglich damit in Einklang. Wohnortbezogene Nahversorgung im Sinne des LROP 2017 definiert sich über Betriebe, die ausschließlich kleinräumig wirken und keine Raumbedeutsamkeit erlangen. Wegen der engen räumlichen Wirkung stehen diese Vorhaben nicht in Standortkonkurrenz zu Mitbewerbern und tragen nicht zur Ausdünnung des Versorgungsnetzes bei. Zwingend einzuhaltende Voraussetzungen sind, dass das Sortiment mindestens zu 90 % aus periodischen Sortimenten (Waren des täglichen Bedarfs) besteht und mehr als 50 % des Umsatzes von Kunden aus einem fußläufigen Einzugsbereich stammen. Hierbei legt das LROP 2017 eine maximale Gehzeit von 10 Minuten zugrunde. Am geplanten Standort lässt sich nachweislich kein Umsatzvolumen von 50 % aus der näheren Umgebung generieren. Somit wäre das Vorhaben auf Kaufkraftzuflüsse aus der Umgebung angewiesen. Das Planvorhaben ist so nicht städtebaulich integriert, da es außerhalb des zentralen Versorgungsbereichs liegt. Das Integrationsgebot des LROP 2017 ist demnach nicht eingehalten.

Allerdings gilt dies auch für alle anderen Standorte im Stadtgebiet, da Aurich diese Werte aufgrund der dezentralen Siedlungsstruktur nicht erreicht werden können.

 

Unter bestimmten Voraussetzungen kann eine Ausnahmeregelung vom Integrationsgebot des LROP 2017 Anwendung finden. Hierzu müssen folgende Prinzipien eingehalten bzw. nachgewiesen werden:

 

  • Auf mindestens 90 % der Verkaufsfläche des großflächigen Einzelhandelsprojekts sind periodische Sortimente zu vertreiben, demnach sind maximal 10 % Rand- bzw. Nebensortimente als aperiodische Sortimente zulässig.
  • Es liegt ein verbindliches städtebauliches Konzept vor.
  • Es besteht eine städtebaulich integrierte Lage im Sinne des LROP im zentralen Siedlungsgebiet der Gemeinde.
  • Es wird der Nachweis erbracht, dass städtebauliche oder siedlungsstrukturelle Gründe eine Vorhabenansiedlung in städtebaulich integrierter Lage unmöglich machen.
  • Der alternative Vorhabenstandort liegt innerhalb des zentralen Siedlungsgebiets, verfügt über einen räumlich funktionellen Zusammenhang zu Wohngebieten und ist in das Netz des ÖPNV eingebunden.

 

In der Verträglichkeitsuntersuchung Wiesenstraße wird herausgestellt, dass der Standort des geplanten Lebensmitteldiscounters zu befürworten ist. Ebenso dient die Reaktivierung des Standortes als Lückenschluss für einen im Bereich der Nahversorgung unterversorgten Bereich und würde somit eine Verbesserung der Versorgungssituation darstellen. Lediglich die projektierte Verkaufsflächengröße, die aus der bundesweiten Neukonzeption der Discounterkette resultiert, weicht von den Zielen der Raumordnung ab. Die im Vergleich zu älteren Bestandsmärkten größere Verkaufsfläche lässt sich vor allem auf kundenfreundlichere Gangbreiten zurückführen. Das Landesentwicklungsprogramm Bayern (Stand 2020) hat bereits eine Ausnahmeregelung eingeführt. Abweichungen sind für Betriebe mit einer Verkaufsfläche bis 1.200 m² zulässig, wenn diese überwiegend dem Verkauf von Waren des Nahversorgungsbedarfs dienen.

 

 

Für die erforderlichen Nachweise sind ergänzende Gutachten zum bestehenden Verträglichkeitsgutachten zu erstellen. Nach Vorlage der Gutachten kann in das Verfahren zur Ausnahme des Integrationsgebots für den Vorhabenstandort beim Landkreis Aurich eingestiegen werden.